Meine ersten Eindrücke von UNIONEN

von Christoph Zeiselberger

„Man kann ein System nur ändern, indem man die eigene Organisation verändert – denn sie ist Teil dieses Systems.“

Quelle: Stockholmer Gespräche
der „Change“ der UNIONEN

Ich bin hier im Zentrum von Stockholm, direkt an einer sehr belebten Einkaufsgegend grenzend, zu Gast bei der Gewerkschaft der Privatangestellten von Schweden. Sehr beeindruckend ist die Organisation der Arbeitsabläufe und der Räumlichkeiten der UNIONEN. Es gibt keine fixen Arbeitsplätze für MitarbeiterInnen im Bürokomplex. Es gilt das Prinzip des Shared Space. Es gibt auch keine konkreten Arbeitszeiten. Die Büroräume sind hell, bunt und freundlich.

Arbeitsunterlagen außerhalb des Computers sind hier eher zu vermeiden. Für Infomaterialien gibt es einen großen, zentralen Bereich, auf den alle Zugriff haben. In den Büros selbst gibt es diese Materialien nicht. Das sorgt schon beim ersten Betreten der Räumlichkeiten für einen klaren, strukturierten und ordentlichen Eindruck. Dass es sich bei den UNIONEN um eine White Collar Gewerkschaft handelt (White Collar – Weißkragen, also Hemden; Blue Collar – Blaukragen, also Bauarbeiteranzug), merkt man auch an den MitarbeiterInnen vor Ort und an der doch sehr spürbaren Büroatmosphäre. Welchen Einfluss das aber auf die gewerkschaftliche Arbeit und deren Erfolg hat, ist für mich zu dem Zeitpunkt noch ein wenig offen.

Meine Supervisorin vor Ort heißt Carin Hallerström und ist so etwas wie die Internationale Sekretärin. Sie hat Ökonomie studiert und ist bereits seit 2010 bei den UNIONEN.

Die ersten beiden Wochen werde ich in Stockholm, danach in Uppsala und in Södertälje (spricht man fast aus wie „Süd-Italien“ – ist es aber definitiv nicht) verbringen. Dort werde ich die IF Metal und eine mir noch unbekannte Gewerkschaft kennenlernen. Also auch die Blue Collar Gewerkschaften.

Mein Forschungsgebiet erstreckt sich aber auch über den gewerkschaftlichen Bereich der UNIONEN hinaus. Ein Teil davon wird der Niedriglohnsektor sein. Herauszufinden, wie es in Schweden möglich ist, ohne Mindestlohn einen doch sehr beeindruckenden Standard an Einkommen zu schaffen.

Doch zurück zu meinen ersten Eindrücken von der Zentrale der UNIONEN in Stockholm. Bevor ich nun in Lobeshymnen verfalle, sollte man wissen, dass die UNIONEN in den letzten 4 Jahren 100.000 neue Mitglieder „rekrutiert“ (so nennt man das in Schweden) haben. Von unter 400.000 vor 10 Jahren, auf über 600.000 heute. UND – ganz wichtig – die UNIONEN sind finanziell eher sehr gut situiert. Das schafft die Möglichkeit, so einen „Change“ in dieser Form auch umzusetzen.

Vor 10 Jahre gab es diesen sogenannten „Change“. Die Gewerkschaft wurde radikal verändert. Von Grund auf neu gedacht. Dieser Umbruch war tiefgreifend und änderte fundamental die Arbeitsweise und die Zugänge zur Mitgliedergewinnung (Rekrutierung).
Die Veränderung benötigte aber auch die Bereitschaft, Dinge neu zu ordnen, Denkweisen und Haltung zur eigenen Arbeit zu reflektieren und vor allem eines: Konsequenz. So wurde mir das berichtet.

Das Ergebnis ist in Form eines modernen Büros nach außen hin sichtbar und wirkt so unglaublich organisiert, frisch, offen und hipp, dass ich beinahe das Gefühl habe, bei einem Start-Up gelandet zu sein.

Dahinter steckt ein Konzept

Cool und hipp wirken zu wollen ist das Eine. Das Andere ist, Erfolg zu haben. UNIONEN hat beides gleichermaßen gemeistert.

„Der Hund liegt im Detail begraben.“ Warum? Gewerkschaftspolitische Erfolge – Einfluss auf bessere Arbeitsbedingungen, Mitglieder Gewinnung, Wachstum – kommt bei den UNIONEN nicht von irgendwo. Es fängt direkt in der eigenen Organisation an, wie anfangs bereits erwähnt. Neben wirklich modernen, durchkonzipierten Büroräumen, gibt es auch eine Haltung, welche sich in einem Wort zusammenfassen lässt: Präsenz!

Präsent zu sein, den Mitgliedern zu zuhören, offen sein. „Wir wissen, dass unsere Mitglieder Flexibilität wollen. Das ist gut so. Ein Ausgleich muss daher her.“ „12 Stunden zu arbeiten ist nicht gut, kann aber einmal die Ausnahme sein – mit Ausgleich.“ (Wichtig beim 12 Stunden Tag Thema: die UNIONEN sprechen von ihren Mitgliedern als White Collar Gewerkschaft. Ihnen ist völlig bewusst, dass  Blue Collar Gewerkschaften das anders sehen und sehen müssen!) „Beide Eltern wollen Karriere machen – Betonung auf beide! Das muss sich organisatorisch in einer Familie einfach ausgehen.“ Das sind Sätze, die ich zu hören bekommen habe.

Notorische „Nein-Sager“ sind hier nicht gerne gesehen. Wenn in Stockholm von früher gesprochen wird, sind nicht die 80er Jahre gemeint. Es geht um vor das Jahr 2000. Die Welt hat sich in den Augen der UNIONEN mit der Digitalisierung (den Begriff verwenden sie nicht wirklich, weil sie – wie wir ebenso – mittendrin stecken. Der Unterschied liegt aber im Bewusstsein darüber) drastisch verändert. Home-Office, Flexibilität inklusive. Die UNIONEN gehen mit ihren Mitgliedern bereits den Weg der Digitalisierung und schaffen Rahmenbedingungen darüber, während wir – gefühlt – den Begriff der Digitalisierung wieder und wieder neu definieren wollen.

Gut, jetzt kann man über unterschiedliche Systeme, politischen Einfluss der Organisationen etc. streiten. Dass der Vergleich möglicherweise hinkt (von den finanziellen Mitteln abgesehen). Doch in einer globalisierten Welt, in der ähnliche politische, wirtschaftliche Strömungen vorherrschen, kann man durchaus einen Vergleich starten, ohne dabei die exakt gleiche Voraussetzung zu haben.

Was meine ich damit? Die UNIONEN scheinen uns doch ein paar Jahre voraus, was die eigene Arbeitsweise angeht (nicht die Haltung oder die Vorstellung wie gute Arbeit für unsere Mitglieder auszusehen hat). Im Marketing, im Auftritt, in ihrer gesamten Arbeitsweise. Hiervon etwas abzuschauen ist auf jeden Fall eine Chance, um für unsere Organisation etwas zu lernen.

Zurück zum Bürokonzept. Der Zusammenhang, zwischen dem wie nach dem erwähnten „Change“ innerhalb der Organisation gearbeitet wird (also wie die Organisation organisiert ist) und der damit einhergehende Erfolg bei der Mitgliedergewinnung, ist bedeutend groß.

Die Büros sind offen. Genau genommen gibt es keine Einzelbüros. Das spart Platz und ist daher wirtschaftlich für eine Organisation relevant. Spare Unterlagen ist eine Grundhaltung. Das papierlose Büro existiert – nur noch nicht bei uns. Mit wenigen Ausnahmen wie Kodizes oder Gesetzeskommentare, gibt es kaum irgendwo Zettel und Stift, die im Büro herumliegen. Stattdessen funktionierende Infrastruktur im Stile einer modernen Softwarefirma. Es gibt Arbeitskojen mit Computern, an denen man sich mit eigenem Namen einloggt. Ganz easy. Viele unterschiedliche Meeting Möglichkeiten inmitten dieser Computerkojen. Apropos Meeting: Die gilt es zu vermeiden. Ganz ohne Meeting geht es natürlich nicht, aber es wurde im Zuge des „Changes“ auch genau hinterfragt, was sinnvoll ist und was nicht. Für Meetings kann man Plätze buchen. Das geht mittels Konsole direkt vor Ort. Ganz easy. Meetingräume, die etwas mehr Privatsphäre verlangen, sind nicht hinter Türen, sondern hinter Vorhängen.

Für Telefonate gibt es Telefonkojen. Es gibt auch kleinere Meetingkojen. Ganz wichtig – die Drucker. Die sind Zentral in jedem Stockwerk hinter Glastüren. Keine lästigen Druckergeräusche mehr. Die Stockwerke sind benannt nach „Herbs“ Also Kräutern, die auf Bäumen wachsen. Je nach Stockwerk sind diese nach „Herbs“, die in einer gewissen Höhe eines Baumes wachsen, benannt. Ganz oben auf der Baumkrone, im 8. Stock, findet man Namen wie „Pergolan“.

Apropos ganz oben: Die UNIONEN haben eine riesige Dachterrasse. Nur so nebenbei.

Was bringt das dem Mitglied? Ich würde spontan sagen: viel. Die Kreativität und der Spirit sind deutlich spürbar. Was bringt einen 25-Jährigen, oder eine 21-Jährige dazu, Mitglied zu werden? Angesprochen zu werden! Und das möglichst in ihren Sprachen und an ihren Lebensrealitäten angepasst. Hier geht es viel um Image. Image, um das Ziel zu erreichen: Die Arbeitswelt mit zu gestalten! Zur Erinnerung. Die UNIONEN sind eine reine White Collar Gewerkschaft und zudem sind sie praktisch nicht politisch aktiv. Auch eine total andere Situation als in Österreich. Das bedeutet aber nicht, dass die AngestelltInnen hier nicht politisch sind. Ganz im Gegenteil, was ich nun in den ersten Tagen bereits erfahren konnte.

Ziele zu erreichen, sogenannte „Goals“, sind auch in der täglichen Arbeit der UNIONEN MitarbeiterInnen ein ständiges Thema. Diese sind wichtiger als der Faktor Zeit. „Wann und wie lange muss ich arbeiten?“ sind nebensächlich. Wenngleich nicht völlig obsolet. Ziele sind viel wichtiger, auch wenn diese manchmal schwer zu messen sind. Das schafft Freiraum. Dieser Freiraum gibt die Möglichkeit, die Arbeit einfach besser zu machen und gleichzeitig langfristig glücklich im Job zu sein.

Eine (durchaus bewusste) Gefahr ist jedoch das sogenannte „Log-Out“ Problem. Nicht nur bei den UNIONEN MitarbeiterInnen als Problem erkannt, ist es ein gesamtgesellschaftliches Phänomproblem (Phänomen/Problem) geworden.

Zum Beispiel die Mails am Abend noch checken, nicht Ruhe geben, immer erreichbar sein. „Log-Out“ ist ein Begriff, den die UNIONEN auch bewusst verwenden. Allgemein wird hier mit Begriffen, Marketing und Kommunikation sehr bewusst umgegangen. Das schafft Klarheit, Sicherheit und fokussiert.

Die Stimmung in den Büroräumlichkeiten, in denen sich nicht nur die Region Stockholm befindet, sondern auch die der gesamten UNIONEN Schweden, ist ausgezeichnet und sehr kommunikativ.

Kritische Stimmen gibt es trotzdem. Die doch sehr intensive Kommunikation zwischen den KollegInnen zehrt an den Kräften. Es ermüdet, wenn man den ganzen Tag so eng in Kontakt steht. Das ist wohl die Kehrseite der Medaille. Doch wenn das Ergebnis stimmt und man geht müde nach Hause, dann hat man doch was richtiger gemacht, als wenn man nur müde nach Hause geht.

In diesem Sinne, ich bin auch nach einem ganzen Tag voller in Englisch gehaltener Diskussionen sehr müde und gönne mir nun ein 15€ Bier. Danke Schweden für deine starke Währung.

In einer Woche folgen weitere Eindrücke!

Hier noch eine Galerie der Büroräumlichkeiten:

Meine weiteren Themen für das Praktikum sind:

/ Ob es in Schweden bereits „rechte Gewerkschaften“ gibt. Oder nur politische Strömungen.

/ Betreuungskonzept für Mitglieder; Lebensphasen der Mitglieder; wie funktioniert das technisch im Hintergrund; was passiert da im Hintergrund?

/ Gibt es einen strukturierten Prozess für die Transformation/Digitalisierung der Organisationsform?

/ Wie werden die Rechten von den Gewerkschaften von der Gesellschaft in Schweden wahrgenommen?

/ Worauf wird die Zunahme der Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in diesem Jahrzehnt zurückgeführt?

/ Was tun die Gewerkschaften gegen die Rechten?

/ Kollektivvertragspolitik: gibt es Tendenzen auf einen Rückgang des Flächen-KV? Wie antwortet die Gewerkschaft darauf?

/ Schweden hat mit 3% den niedrigsten Anteil an Niedriglohnbeschäftigten und keinen gesetzlichen Mindestlohn. Wie haben die Gewerkschaften dieses Ergebnis erreicht? Gibt es eine Koordination zwischen den Gewerkschaften was die Lohnabschlüsse zwischen verschiedenen Branchen betrifft? Wie ist das Verständnis solidarischer Lohnpolitik, hat sich diese in den letzten Jahren verändert?

/ Sozial- und Gesundheitswesen in Schweden: Funktionsweise und Verantwortung (Bund, Kommune, NGOs,…), Rolle von privaten Anbietern (bzw. großen Konzernen wie ORPEA), gewerkschaftliche Organisationsstrategie.

/ Wie geht es Schweden in der Gleichstellungsarbeit?

/ Gibt es in der besuchten Gewerkschaft standardisierte Prozesse, wie an neuen BR-Mitglieder bzw. neue Belegschaftsvertreter/innen seitens der Gewerkschaft herangetreten wird? Wenn ja, welche?

/ Einsatz digitaler Formate/Medien/Tools in der Informations-, Beratungs- und Bildungsarbeit der Gewerkschaft. Wie sind die praktischen Erfahrungen? Gibt es Konzepte? Umsetzungsprozesse im Sinne „digitaler Transformation unserer Gewerkschaftsarbeit“

/ Gewerkschaftliche Aktivitäten rund um die EU-Wahlen (Mobilisierung der Mitglieder? Forderungen? Gewerkschaftliche KandidatInnen für das EU-Parlament? Beteiligung an Partei-Wahlkämpfen?)

/ Der 1. Mai: Wie wird er in Schweden begangen? Werden konkrete Forderungen gesellt?

p.s.: ich denke, ich habe das Stockholm-Syndrom